Friederike Steitz
In der Nacht fällt der Schnee langsam
Diesen poetischen Ausstellungstitel hat Francis Berrar gewählt, denn die Nacht und das nächtliche Wachsein sind ihm vertraut und durchaus als Quellen der Inspiration willkommen. Die eintretende Stille und Dunkelheit schärfen die Wahrnehmung. Der Blick des Künstlers richtet sich sowohl nach innen als auch nach außen auf naturhafte, kosmische oder meteorologische Phänomene. Berrar spricht von der „Macht der Nacht“, in deren Bann beispielsweise auch Louise Bourgeois stand, die die langen Stunden der Schlaflosigkeit zum Zeichnen und für schriftliche Reflexionen nutzte, woraus ihre „Insomnia Drawings“ hervorgegangen sind.
Warum aber dieser ausdrucksstarke Ausstellungstitel, wenn er laut Berrar keine Rolle für das Verständnis seiner Bilder spielt? Möglicherweise wird die unvoreingenommene Betrachtung der Bilder erschwert, weil die Betrachter*innen unwillkürlich versuchen, das Sprachliche in den Bildern wiederzufinden. Wir sehen keinen Schnee, der langsam fällt! Der Titel führt uns nicht zu einem kognitiven Verständnis der Bilder, aber er vermag uns einzustimmen wie ein Gedicht, in dem das Eigentliche zwischen den Worten liegt. Gegensätze wie „fallen“ - was eine schnelle Bewegung impliziert - und „langsam“ werden, wie im rhetorischen Stilmittel Oxymoron, zusammengeführt, denn in der Nacht gelten andere Gesetze. Die Worte erklären auf rationaler Ebene nichts, sondern ermöglichen den Betrachter*innen, in eine Atmosphäre jenseits des begrifflich Fassbaren einzutreten. Die poetische Kraft des Titels, nicht sein interpretierter Inhalt, sensibilisiert uns für die Offenheit und Weite der Berrarschen Bildräume.
Wie spricht man oder schreibt man über Bilder, die sich jeglicher Gegenständlichkeit entziehen? Die von Inhaltlichem unbelastete Annäherung an diese Werke besteht in der Betrachtung und Beschreibung ihrer Gestaltungselemente wie Form, Linie, Farbe, Raum, Licht und Dunkel. Zunächst fallen die vertikalen Linien auf, die seit 2011 in Berrars Bildern auftreten und alle Gemälde dieser Ausstellung gemeinsam haben. Diese Linien, die mit einem Lineal gezogen wurden, stehen wie ein Vorhang“ auf der vorderen Bildebene und in unterschiedlichen Beziehungskonstellationen zum übrigen Bildgeschehen. Die Pinselführung von oben nach unten erzeugt eine satte Linie, die unterbrochen wird, wenn der Pinsel Farbe aufnehmen muss. Diese Stellen, an denen der Pinsel neu ansetzt, rhythmisieren die Bildfläche. Die leichten Abweichungen innerhalb einer Linie und zwischen den Linien erzeugen den Eindruck eines zarten Vibrierens. Während in Arbeiten wie „capture“ aus dem Jahr 2017 das Lineament mehr in den Bildraum eingebunden erscheint oder durch Verdichtung an den Bildrändern die Großform als Zentrum in Erscheinung treten lässt, öffnet sich in den neueren Bildern der fiktive Bildraum deutlicher hinter den dichten, feinen Linien. Eine Zwischenstellung nehmen Bilder wie „Atacama“ ein, in denen das leuchtende Blau in gebündelten Streifen von unterschiedlicher Ausdehnung, optisch zurücktritt, wodurch das Lineament selbst Teil eines räumlichen Vor- und Dahinter und damit Teil des Bildgeschehens ist.
In der Gemäldeserie „cloud“ herrscht eine Helligkeit in Gelb- und Ockertönen in Verbindung mit zart durchscheinendem Grün, Blau, Violett und Pink in feinen Abstufungen, was den Eindruck eines unendlichen Raumes erzeugt. Gestisch aufgetragene Pinselspuren laden den Bildraum energetisch auf, wobei stets ein Gleichgewicht der Bildelemente bewahrt wird, indem eine Linie oder Form in Gegenbewegung antwortet. Waagerecht schwebende Formen wiederholen sich wie ein Echo im Bildraum, wie beispielsweise die breite Horizontale in Pink am unteren Bildrand von „cloud V“, die zudem neben den hellen, durchscheinenden Lasuren stabilisierend wirkt.
Der Malprozess beginnt mit einer ersten farbigen Lasur und Farbschüttungen auf die am Boden liegende Leinwand. In das so eröffnete Malereignis bringt Francis Berrar mithilfe eines mit einem Stock verlängerten Pinsels austarierte Flächen, Formen und Pinselstriche in sich überlagernden zarten Farblasuren hinein bis Bildräume auf der zweidimensionalen Fläche aufscheinen. Sowohl Intuition als auch Reflexion bestimmen den Malprozess, der mit dem Auftragen des vertikalen Liniengefüges endet und Einblick in eine vorbegriffliche Sphäre gewährt, die nur sich selbst meint. Auch Bildtitel wie „mooning“, „night sky“ oder „space between dreams“ deuten auf Berrars Affinität zur Nacht hin, die ihm Stille, reine Anschauung von Veränderungen am nächtlichen Himmel und daraus resultierend schöpferische Energie verleiht. In diesem Zusammenhang wurde bereits auf Berrars Bewunderung für Caspar David Friedrichs „Männer in Betrachtung des Mondes“ hingewiesen¹. Ein romantischer Grundton, in dem das Staunen über das Kosmische und die Erkenntnis, dass vieles unbeschreibbar und nur momenthaft festzuhalten ist, sich im einzelnen Bild niederschlägt, in dem kein geschlossener Bildraum auszumachen ist und in dem das Lineament über die Bildränder fortsetzbar erscheint. Die Annäherung an das große Ganze vollzieht sich bruchstückhaft – im Fragment – so auch der Titel eines Bildes – wie auch im seriellen Arbeiten. Der Flüchtigkeit der Wolken, ihrer permanenten Bewegung, kann nur der serielle Malakt gerecht werden.
Eine Momentaufnahme ist auch die Wandinstallation von Zeichnungen aus dem Zeichnungszyklus „Aloneland“. Für Francis Berrar sind die allabendlich tagebuchartig entstehenden Zeichnungen, die über Jahre hinweg zu großen Konvoluten zusammenwachsen, ein wesentlicher Bestandteil seines Gesamtwerkes. Die Unmittelbarkeit des Zeichnens, die Reduktion auf Schwarz und Weiß bei gleichzeitiger Nuancierung in Druckstärke, Hell-Dunkel, Strich- bzw. Pinselbreite, Leere und Fülle sowie der gestische Duktus sind ein Denken mit der Hand, kein Denken in Begriffen, sondern in Bildern. Auch hier begegnet uns ein emotional aufgeladener Bildtitel, der in den Zeichnungen Teil der Bildkomposition wird: ALONELAND. Spiegelt sich hier die Einsamkeit der Rückenfiguren Caspar David Friedrichs wider, oder ist es die Akzeptanz des Künstlers, im künstlerischen Prozess letztlich allein zu sein? Dennoch wird das Kunstwort nicht in erster Linie semantisch, sondern graffitiartig visuell eingesetzt. Die zeichnende Hand spürt dem Vor- begrifflichen, dem emotionalen Potential nach, indem die Sprache bildnerisch vereinnahmt wird. Das Bild triumphiert sozusagen über die inhaltliche Seite der Worte. Die Zeichnungen sind fortgesetzte Annäherungen an Unsagbares. Die Auswahl der Zeichnungen und ihre Anordnung an der Wand bilden eine Momentaufnahme dieses Prozesses und werden so zu einem Werk.
Wie die Gemälde weisen auch die Zeichnungen das eigentümliche Gleichgewicht zwischen Dynamik und Stabilität auf, wobei die körperliche Präsenz der zeichnenden Hand hier unmittelbarer zu spüren ist. Es scheint, als suche die Hand die ununterbrochene Bewegung, als wolle sie „im Fluss bleiben“. Dafür eignen sich besondere Formen, die immer wieder als zentrale Motive in Berrars Zeichnungen zu finden sind, darunter die gebogene, geschlossene Form, die auf die abstrahierte Frisur aus einer Shampoo-Werbung zurückgeht und sich für eine dynamische, sich wiederholende Linienführung anbietet. Das Verhältnis der einzelnen Zeichnung zum Konvolut ist wesentlich für die Entstehung von Berrars Künstlerbüchern. Im haptischen Erlebnis des Blätterns wird der serielle Charakter der zum Block gehefteten Zeichnungen spürbar. Wie in der Wandinstallation sollen die Zeichnungen nicht als Einzelwerke wahrgenommen werden, sondern als Teile eines übergeordneten Ganzen. Das Buch mit seinem hochwertig gestalteten Einband ist ein Unikat, das die Zeichnungen zu einem Werk vereinigt.
Francis Berrar veranschaulicht Wirklichkeiten, die uns als bildnerische Ereignisse gegenüberstehen und die wir im Prozess des Sehens nachvollziehen können. Es ist eine Malerei, die malerische Gegensätze in Einklang bringt, ohne sie auflösen zu wollen: das Verhältnis zwischen freier Geste und Vertikalität der Linie, Sprache und Bild, Intuition und Kognition, Fläche und Raum, warmen und kühlen Farbtönen, Bewegung und Stabilität. In dieser aufrechterhaltenen Balance liegt die Spannung der Bilder. Die Nacht bewahrt ihre Geheimnisse. Die Geheimnisse scheinen auf, werden jedoch nicht ins Licht gezerrt.