Ernest W. Uthemann
Francis Berrar. Venustransit

„Ein Bild braucht einen Titel“, sagte Francis Berrar sinngemäß, „es könnte aber ebenso eine Ordnungszahl sein.“ Das habe ich schon sehr oft erlebt: Künstler spielen die Bedeutung eines Bildtitels herunter, wenn Betrachter sich darüber einen Zugang zum Werk erschließen wollen. Das ist, wenn man es recht bedenkt, auch gut zu verstehen. Das Spiel mit den Assoziationen, die ein Bildtitel hervorruft, überlagert nicht selten die Beschäftigung mit der künstlerischen Qualität eines Werks. Denn der Betrachter fühlt sich fast zwangsläufig genötigt, nach Entsprechungen zwischen der Benennung und dem Dargestellten zu suchen und stellt damit Gedanken über das eigentlich Gestalterische hintan. Es gibt Künstler, die diesem Mechanismus entgegenwirken, indem sie ihre Werke mit Phantasieworten betiteln, wie etwa Emil Schumacher. Andere fassen lapidar das im Bild Sichtbare zusammen, wie Caspar David Friedrich bei seinem Gemälde „Zwei Männer in Betrachtung des Mondes“, einem der Lieblingsbilder Francis Berrars – ich werde darauf noch zurückkommen. Dann aber gibt es Bildtitel, die weder lautmalerisch noch schlicht beschreibend sind, sondern dazwischen angesiedelt scheinen. Zu diesen gehört die Bezeichnung des Triptychons "Venustransit" von Francis Berrar, das Sie hier in der Johanneskirche sehen.

Ich habe mich, trotz der erwähnten Bedenken, in der Vorbereitung dieser Rede zunächst auf den Bildtitel konzentriert, aus einem einfachen Grunde: Ich hatte nichts anderes. Als ich, sehr geehrt von der Anfrage, meine Zusage gab, existierten die Bilder noch nicht, waren in Arbeit, und Fotos waren deshalb auch nicht vorhanden. Was es gab, war ein Begriff, der mich gleich faszinierte, obwohl ich nur eine vage Vorstellung von seiner Bedeutung hatte: "Venustransit". Ich erinnerte mich, dass es sich um einen von der Erde aus sichtbaren Vorbeizug des Planeten Venus an der Sonne handelt - viel mehr aber auch nicht. Also versuchte ich mich so gut wie möglich, über die Hintergründe des Bildtitels kundig zu machen. Die erste Eigenschaft dieses Phänomens, die mir bemerkenswert schien, war ihr Turnus. Da die Bahnen von Erde und Venus gegeneinander geneigt sind, finden die Venustransits in den dem Laien kurios erscheinenden Intervallen von 8, 121 ½, wiederum 8 und dann 105 ½ Jahren statt. Johannes Kepler berechnete als erster einen Venustransit voraus, den vom 7. Dezember 1631 - bedauerlicherweise starb er 1630 und erlebte somit die Verifizierung seiner Voraussage nicht mehr. Mir fiel Francis Berrars Äußerung über die "Zwei Männer in Betrachtung des Mondes" ein: Der Transit von 1631 war von Europa aus ohnehin nicht sichtbar, aber wäre er für Kepler - in Berrars Worten - eine ähnliche "Gotteserfahrung" gewesen wie für Friedrich und seine Protagonisten die Versenkung in den Anblick des Mondes, oder hätte er ihn kühl wissenschaftlich nur als Bestätigung seiner Berechnungen konstatiert? Wesentlich war für Kepler - und für uns -, dass seine Berechnungen erstmals eine Handhabe zur Bestimmung der Position der Planeten im Sonnensystem boten - also zur Bestimmung unserer Stellung im Kosmos. Ich denke schon, dass Wissenschaftler seiner Zeit - etwa auch ein angeblicher Ketzer wie Galilei - sich als staunende Zeugen von Gottes Wirken begriffen. Zugleich zweifelten sie aber auch an den Ergebnissen ihrer Beobachtungen - als Wissenschaftler ohnehin – , aber auch als Gläubige, denen ihre "Ketzereien" zu ihrer Irritation ständig vorgehalten wurden.

Ich vermute, heute sind es vor allem Künstler, die sich in dieser Situation befinden, und Francis Berrar ist einer von ihnen. Gewiss basieren die Meinungen und Handlungen von allen von uns auf einer eigentümlichen Melange von Wissen und Glauben, aber die meisten von uns wünschen sich wohl, dass die Ratio in ihren Entscheidungen die Oberhand behält. Ich nehme aus langjähriger Erfahrung jedoch an, dass viele Künstler da anders ticken. Joseph Beuys Postulat "Jeder Mensch ein Künstler!" meint ja nicht, dass wir alle jetzt Holz schnitzen und Aquarellkurse belegen, sondern dass wir in unseren alltäglichen Entscheidungen unsere weniger rationale Seite berücksichtigen sollten. Und wie durch Zauberhand sind wir damit wieder zum Ausgangspunkt dieser Ansprache zurück gekehrt. Denn die Skepsis gegenüber der Macht des Bildtitels begründet sich in der Furcht, dass die Ratio der Sprache, die in einer Benennung steckt, die Wahrnehmung der ungelenkten Gestaltung beeinträchtigen könnte.

Ein Zufall, zweifellos! Aber er kann darüber belehren, wie uns scheinbare Analogien zwischen den Details eines Kunstwerks und den Erscheinungen der uns umgebenden Welt dazu verleiten können, Beziehungen anzunehmen, wo es keine gibt. Das ungegenständliche Bild steht nicht der Welt als Reflektor gegenüber, sondern als eigene Entität in der Welt. Selbst bedeutende Geister haben damit gelegentlich Schwierigkeiten. Der große Kunsthistoriker Sir Ernst H. Gombrich schrieb 1959 über die ungegenständliche Kunst: "Soziologisch gesehen, besteht die Funktion dieser Art von Malerei vielleicht darin, daß wir mit ihrer Hilfe den komplizierten und häßlichen Formen, mit denen unsere industrielle Zivilisation uns umgibt, doch einen Sinn abgewinnen können. Wir lernen, selbst verbogene Drähte und vertrackte Maschinenbestandteile irgendwie als Ausdruck menschlicher Tätigkeit zu sehen."

Zweifellos ein tiefes Missverständnis! Aber: Natürlich ist auch das gelungene ungegenständliche Kunstwerk nicht stumm gegenüber der Welt. Es kommentiert sie auf seine eigene Art. Es thematisiert, es beleuchtet die Welt. Das ist auch bei diesem Werk so. Der Titel mag in den Augen des Künstlers nebensächlich sein, zufällig ist er nicht. Da ist zunächst Berrars eigene Bekundung der Bewunderung des Gemäldes von Caspar David Friedrich. Ein kosmisches Phänomen ist Thema in beiden Werken, wobei manchem vielleicht heute Friedrichs Faible für ein so ein gewohntes, gewissermaßen "allnächtliches" Gestirn wie den Mond etwas banal erscheinen mag. Der Mond, die mondbeschienene Nacht war für die Romantiker - nicht nur für die Maler, sondern auch für die Dichter - sozusagen die Leib - und Magenszenerie für die Begegnung mit dem Kosmos. Die Sonne rückte erst mit dem Impressionismus in den Mittelpunkt. Übrigens: Das Gestirn links des Mondes in Friedrichs Bild ist die Venus, der Abendstern.

Nun gut: Das wäre nicht mehr als die Verneigung eines Künstlers vor einem verehrten Vorgänger. Aber darin erschöpft sich Berrars Bezugnahme auf Friedrich nicht. Man kann etwa eine eigentümliche Allianz von Chaos und Ruhe in beiden Bildern beobachten. Friedrichs Männer sind von einem Gewirr aus Felsen, lebendem und totem Geäst umgeben, Berrars Triptychon zeigt den Kontrast von ungezügelt freier Malerei, einem All-over von Pinselzügen und Farbklecksen einerseits und der strengen Rhythmisierung durch das vertikale, übrigens mit dem Lineal gezogene Lineament andererseits. Das kosmische Ereignis, das der Bildtitel thematisiert, ist in Berrars Bildern zugleich ein Phänomen im unendlichen Chaos des Alls wie in der Rationalität seiner Beobachtung. Die Streifen, malerisch angelegt trotz ihrer Regelmäßigkeit, mit sichtbaren Unterbrechungen und Absätzen, markieren im wahrsten Sinne den rationalen Aspekt der Gemälde; was an Malerei dahinter liegt ist vielleicht am besten mit bewusstem Verzicht des Künstlers auf Kontrolle beschrieben. Aber Francis Berrar wäre nicht der Maler, der er eben ist, wenn er nicht diesen nur scheinbar unbeabsichtigten Kontrollverlust wieder einfangen, "hinter Gitter" bringen würde. Nach seinen eigenen Worten erzeugt das vertikale Lineament, das hier nicht zum ersten Mal in seinen Bildern erscheint, eine für ihn notwendige Stabilität der eigentlich dekomponierten, dem All-over der amerikanischen Abstrakten Expressionisten wie Jackson Pollock verpflichteten Malerei. Wie Pollock bearbeitet auch Berrar Leinwände, die auf dem Boden liegen. Anders aber als der Amerikaner will der deutsche Künstler nicht im Bild sein, auch nicht die Farben direkt aus der Dose tropfen - er trägt seine wie synthetisch schillernden Couleurs mit einem Pinsel auf, der an einer Stange befestigt ist.

Die drei Tafeln des Triptychons sind von unterschiedlichem Charakter. Die wohl geschlossenste ist die linke Tafel, nicht zuletzt deswegen, weil sie an allen vier Seiten eine Art Rand bildet, der eine Entgrenzung verhindert. Der rechte Teil wirkt malerisch am wildesten, am aggressivsten, wobei auch hier eine Begrenzung am rechten Bildrand einen Abschluss markiert. Die mittlere Tafel scheint am ruhigsten und durch die an Gestirne und Sternennebel erinnernden Formen auch dem Bildtitel am adäquatesten. Aber wie gesagt: Hier haben wir es nicht mit Abbildern kosmischer Ereignisse zu tun. Bestenfalls mit Anmutungen geistiger Art. Mir kamen bei der Betrachtung dieser Bilder wieder meine angelesenen Kenntnisse - aber welche Kenntnisse sind nicht angelesen? Wenige! - in den Sinn, die den Turnus des Venustransits betrafen, nämlich die sehr eigentümliche, aber gleichzeitig doch regelmäßige Erscheinung dieses kosmischen Phänomens in Intervallen, die berechenbar sind, aber weit davon entfernt, unseren verbreiteten Vorstellungen von Folgerichtigkeit zu genügen. Und hier berühren sich Francis Berrars Malerei und das Phänomen am Himmel, in der Verbindung eines ans Amorphe grenzenden, bei der Entstehung nicht einmal dem Künstler selbst völlig vorhersehbaren, expressiven "All overs" und dem mithilfe eines Lineals gezogenen, gleichmäßigen vertikalen Lineaments.

Chaos und Ordnung sind gleichzeitig präsent. Und das scheint mir auch das Prinzip zu sein, das in unserem Kosmos waltet.

Als Betrachter des Triptychons befinden wir uns einerseits in der Lage von Friedrichs beiden Männern, schauen auf ein geheimnisvolles Geschehen, das dennoch nachvollziehbar ist. Wir können die Arbeitsschritte in ihrer Abfolge als Überlagerung und luzides Durchscheinen wahrnehmen, sogar Unterbrechungen und Neuansätze. Wie ein Betrachter von Caspar David Friedrichs Gemälde sind wir also natürlich auch einem Bild und seiner Struktur konfrontiert. Dabei fällt auf, dass der Romantiker den geordneten, beruhigten Teil seines Gemäldes in den Hintergrund verlegt, an den Nachthimmel. Der Vordergrund mit durcheinanderliegenden Felsen und und zum Teil gestürzten, geborstenen Bäumen mit wirrem Geäst bezeichnet den Pol der Unordnung, des Chaos. Bei Berrar ist es umgekehrt: Seine ordnenden, strukturbildenden Elemente liegen, in farbigen Rhythmen gebündelt, vor den wildbewegten Formen und Linien des eigentlichen Bildgeschehens, bringen es auf eine Distanz, die Friedrich mit der Ferne der Gestirne und dem landschaftlichen, das Zentrum des Bildes rahmenden Repoussoir erzeugt. Vielleicht unterscheidet uns Heutige von der Sichtweise der Romantik just dies: Dass wir den Kosmos nicht mehr bewundernd, auch ob seiner Unendlichkeit wohlig schaudernd betrachten, sondern, je mehr Wissen wir über ihn sammeln, auch mehr und mehr fürchten - als immer unberechenbar, als mögliche Katastrophen sendend. Wir können den Venustransit auf Jahrtausende exakt voraussagen, aber nur hoffen, dass es der Menschheit auch vergönnt sein wird, diese kommenden Ereignisse auch zu erleben.

Genug der düsteren Gedanken! Freuen Sie sich wie ich an der Farbenpracht und niemals ganz zu überschauenden Formenvielfalt von Berrars Triptychon. Treten Sie nah an die Bilder heran, dann werden Sie Teil von ihnen. Barnett Newman forderte, dass seine riesigen Farbfeldgemälde in engen Gängen aufgehängt werden, damit sich niemand der Intensität der Farben entziehen könne. Bei Berrar heißt es aber nicht "Wer hat Angst vor Rot, Gelb und Blau?", sondern "Lasst Euch von den Farben und Formen einfangen!" Und vielleicht gelingt es Berrars "Venustransit" - ähnlich wie Keplers -, uns bei der Bestimmung unseres Standorts in der Welt zu unterstützen.Bildes wird dem Bild selbst vervielfältigt eingeblendet: Der Rahmen gerät damit ins Spielfeld der Malerei, verliert auf diese Weise seinen ihm inhärenten Machtanspruch.